Bilderzyklus Schweigespuren
Am 26. Februar hat der Verein für Kunst und Kultur in Burgdorf der Stadt – vertreten durch Bürgermeister Alfred Baxmann – den Bilderzyklus „Schweigespuren“ des Flensburger Malers Uwe Appold im Rahmen einer Feierstunde als Dauerleihgabe übergeben.
Appold hat den Bilderzyklus „Schweigespuren“, der Impulse aus Gedichten von Paul Celan gibt, als Ergänzung zu dem im Jahr 2008 entstandenen Gedenkfries zur Erinnerung an die deportierten und ermordeten jüdischen Burgdorferinnen und Burgdorfer entworfen.
Im Rahmen der Veranstaltung, die musikalisch von Prof. Andor Izsák begleitet wurde, hat Hans Werner Dannowski über die Bedeutung der Kunst für eine Gedenk-Kultur gesprochen:
Die Bedeutung der Kunst für eine Gedenk-Kultur
von Hans Werner Dannowski
Im Mai 1948 begegnen sich im besetzten Wien die Philosophiestudentin Ingeborg Bachmann und der staatenlose Jude Paul Celan, der beide Eltern im KZ verloren und selbst ein rumänisches Arbeitslager überstanden hat. „Der surrealistische Lyriker Paul Celan“ habe sich „herrlicherweise in sie verliebt“, schreibt Ingeborg Bachmann an ihre Eltern. Das erste schriftliche Zeugnis dieser schwierigen Beziehung ist ein Gedicht Paul Celans, das er im folgenden Monat an Ingeborg Bachmann schickt und das den Radius des mir aufgegebenen Themas nach meinem Eindruck nahezu vollständig beschreibt. „In Ägypten“ ist der Titel dieses Gedichts. „Für Ingeborg“ steht darunter.
„Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser!
Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen.
Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noemi! Mirjam!
Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst.
Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden.
Du sollst zu Ruth, zu Mirjam und Noemi sagen:
Seht, ich schlaf bei ihr!
Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken.
Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi.
Du sollst zur Fremden sagen: Sieh, ich schlief bei diesen!“
Soweit dieses Gedicht Paul Celans. Nicht wahr, ein seltsames Liebesgedicht und eine seltsame Liebeserklärung ist das.
In der Rhetorik des Dekalogs verkündet das Gedicht neun Gebote der Liebe und des Schreibens nach der Shoah. Sicher, das Gedicht ist auch eine Hommage an die geliebte Frau mit dem prächtigen Wolkenhaar. „Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken“. Aber es bindet die aktuelle Liebe und Begegnung mit der faszinierenden jungen Frau unabdingbar an die Liebe zu den vielen jüdischen Frauen, die in den Pogromen und Vernichtungslagern umgebracht worden sind. Ruth, Noemi, Mirjam, die Liste der Namen ist unendlich fortsetzbar, auch aus der Liste der Burgdorfer Jüdinnen und Juden. „Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Emma, Henriette, Rosalie!“
Der Leser und Hörer des Gedichts wird, zugleich mit der Erinnerung an eine schicksalshafte Begegnung in Wien, beauftragt mit einem nie aufhörenden Totengedächtnis. Überspitzt ausgedrückt, die geliebte Frau wird zum Medium der Verbindung zu den Toten. Und unter der bedrückenden Last dieser Vergangenheit wird der Andere, die Andere zur „Fremden" und das Gedicht zu einem Wort aus dem Exil Israels, aus „Ägypten“. „Der Fremde“, „die Fremde“, das wird zur Chiffre jüdischer Existenz, wie sie die Betroffenen der Shoah erleben, und so begegnen ihnen auch die Anderen, selbst die, die sie mit ihrem ganzen Einsatz lieben.
Sind wir damit schon auf der richtigen Spur, die Bedeutung der Kunst für eine Gedenkkultur umfassend zu beschreiben? Wir haben heute einen besonderen Anlass, dieses Thema gerade an diesem Ort zu bedenken, und der fügt den bisherigen Beobachtungen noch eine neue Nuance hinzu. Uwe Appold hat einen hintergründigen Erinnerungsfries mit den 62 Namen der Burgdorfer Jüdinnen und Juden geschaffen, die in der Judenvernichtung des Dritten Reiches umgekommen sind. Er hat dieser Arbeit den Zyklus „Schweigespuren“ zu Gedichten Paul Celans hinzugefügt, der heute der Stadt Burgdorf übergeben wird. Man kann Burgdorf nur voller Hochachtung gratulieren, dass es möglich gewesen ist, diese Arbeiten durch den Einsatz vieler Burgdorfer für die Stadt zu erwerben und in der Stadt zu halten. Eindrucksvolle Werke sind das, vor denen man – vor jedem Einzelnen – lange verweilen und lange meditieren kann. Aber gerade ihre künstlerische Perfektion, die sie dem flüchtigen Betrachter auch als „schöne Bilder“ erscheinen lassen kann, macht eine Beziehungsfalle deutlich, die man sich vor Augen halten muss.
Theodor W. Adorno hat sie vor Zeiten mit dem prägnanten Satz markiert, dass es unmöglich sei, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben. Die schockartige Erkenntnis steckt darin, dass das Grauen dieser Zeit, die Leiden der Menschen und die geradezu perfekte Vernichtungsmaschinerie der Shoah so unmenschlich sei, dass dies alles von der Kunst – die doch eine zutiefst humane Ausdrucksform sei – nicht mehr zu gestalten ist. Dass es trotzdem unumgänglich ist, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, haben vor allem jüdische Schriftsteller wie Nelly Sachs oder Paul Celan gezeigt.
Es heiße doch, sich als Künstler aufzugeben, sozusagen hinterher noch einmal den Holo-caust zu legitimieren, wenn man auf einen genuinen Ausdruck seiner selbst verzichten wollte. Aber es geht ein tiefer Bruch durch diese Werke der Kunst, sie sind an den Rand des Verstummens und am Abgrund des Schweigens gebaut. Und auch bei dem Zyklus von Uwe Appold geht es, in der wirklichen Aneignung der Arbeiten, darum, den „Schweigespuren“ nachzuspüren und deren Fußspuren zu entdecken.
Uwe Appold hat das Gedicht „Sprachgitter“ von Paul Celan gestaltet.
„Augenrund zwischen den Stäben.
Flimmertier Lid
rudert nach oben,
gibt einen Blick frei.
Iris, Schwimmerin, traumlos und trüb;
der Himmel, herzgrau, muss nah sein.
Schräg, in der eisernen Tülle,
der blakenden Span.
Am Lichtsinn
errätst du die Seele.
(Wär ich wie du. Wärst du wie ich.
Standen wir nicht
unter einem Passat?
Wir sind Fremde.)
Die Fliesen. Darauf,
dicht beieinander, die beiden
herzgrauen Lachen:
zwei
Mundvoll Schweigen.“
Im Bilde Appolds: Die vier Stäbe. Nebeneinander, himmelwärts strebend. Am schönsten für mich das innere Leuchten, die innere Bewegung: „ Am Lichtsinn errätst du die Seele“.
Ein Bild kann nicht alles gestalten, was ein Gedicht – assoziativ – anspricht. Aber dann doch dieses, das Nebeneinander und die Sehnsucht nach dem Miteinander, das gemeinsame Erleben in einem Raum und in einer Geschichte und dann schließlich doch – die Einsamkeit.
„Wär ich wie du. Wärst du wie ich. Standen wir nicht unter einem Passat?“ Das gemeinsame Erleben suggeriert Identifikation, aber entpuppt sich als – Illusion. „Wir sind Fremde“. Den tiefsten Grund dieser Fremdheit aber formuliert der letzte Vers des Gedichts, und da ist sie nun wieder, wie bei dem Bachmann-Gedicht „In Ägypten“, die Einheit von liebender Vereinigung und Vernichtungserfahrung. Der innerste Bezirk der Judenvernichtung steht gerade im Augenblick der Umarmung der Beiden vor seinem inneren Auge. „Die Fliesen“, der Ort des Totenlagers. „Darauf dicht beieinander, die beiden herzgrauen Lachen.“ Die Blutlachen haben ihre Farbe verloren. Das Ende: „Zwei Mundvoll Schweigen“. Das Schweigen, die innere Verstörung, die Fremdheit wird bei Paul Celan bleiben, bis an sein Ende im Freitod in der Seine um den 20. April 1970 herum.
Und das erscheint mir als entscheidend wichtig, dieses Gefühl für die Fremdheit des Anderen wahrzunehmen und in Rechnung zu stellen. Unser Bemühen um eine angemessene Gedenkkultur suggeriert Identifikation und Nähe. Wir möchten verstehen; wir möchten begreifen, was geschehen ist; wir möchten vermeiden, dass sich vergleichbare Entwicklungen wiederholen. Aber wir werden die Andersartigkeit des jüdischen Schicksals nur begreifen, wenn wir – auch und gerade mit Hilfe der Kunst, der Geschichte und der Bilder – seine Fremdheit zu verstehen beginnen. Ein Blick in die verhängnisvolle Geschichte des Dritten Reiches mag helfen, dieses Gefühl des Ausgesetztseins, des Exils auch im eigenen Land zu begreifen.
Am 15. September 1935, also schon so früh, praktisch von Beginn an der nationalsozialistischen Ära, verkündet Hitler anlässlich des Nürnberger Parteitages der NSDAP das „Reichsbürger-Gesetz“ und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Danach sollen die vollen politischen Rechte künftig nur den Inhabern der „Reichsbürgerrechte“ zustehen. Nur Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes stehen diese Rechte zu. Das „Blutschutzgesetz“ verbietet bei Gefängnis- oder Zuchthausstrafe u. a. die Eheschließung zwischen Juden und „Staatsangehörigen“, die sogenannte „Rassenschande“. Schon im April 1933 hatte der Boykott gegen jüdische Geschäfte und Unternehmen begonnen. Die Nürnberger Gesetze beschleunigten die Verdrängung der Juden aus Berufen, Universitäten, Theatern und Schulen und ihre totale Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Die Anerkennung der Bürgerrechte für Menschen, die seit Generationen in Deutschland lebten und tief in der deutschen Kultur verwurzelt waren, sie zu Staatsangehörigen zweiter Klasse machte und sie schließlich sogar staatenlos werden ließ, war eine Diskriminierung, die in ihrer Bedeutung nur von wenigen erkannt wurde. Im April 1938 mussten Juden ihr Vermögen deklarieren, ab Mai 1938 waren sie von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen, im Juli gab es eine besondere Kennkarte für sie, im August erging die Verordnung zur Führung der zusätzlichen Zwangsvornamen Sarah oder Israel, im Oktober wurde in die Reisepässe ein J eingestempelt. Die Haltung von Haustieren und von Telefonanschlüssen wurde verboten. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 wurden alle diese Maßnahmen auch auf dieses Land ausgedehnt. Mit der Reichspogromnacht vom 09. November 1938 leiteten die Nationalsozialisten die offene Verfolgung der Juden in Deutschland und wenig später in ganz Europa ein.
Die in Hannover geborene Hannah Arendt hat 1946 in einem Text zur Gründung des Staates Israel diese Lebenssituation staatenloser Juden in Deutschland und in Europa in aller Klarheit diagnostiziert. Für die deutschen und europäischen Juden innerhalb und außerhalb der Konzentrationslager beschreibt sie einen Raum absoluter Rechtlosigkeit und des völligen Verlustes von Sicherheitsgarantien, die damit verbunden waren. Der Verlust der Bürgerrechte machte aus Mitbürgern das nackte Wesen „Mensch“, der mit seinen staatsbürgerlichen Rechten auch der Möglichkeiten beraubt war, sich auf Heimat, Familie, Verdienste oder andere soziale Einbindungen verlassen zu können. Es war also eine völlig andere Lage, als sie für uns Flüchtlinge aus dem Osten in Geltung war, die wir unsere Heimat, unser Land, oft auch unsere sozialen Bindungen, aber nicht unser Bürgerrecht und die daraus abgeleiteten Verpflichtungen des Schutzes durch Staat und Gesellschaft verloren hatten. Die Aberkennung der Bürgerrechte reduziert das Individuum auf seine nackte, ungeschützte Menschheit und gibt es damit der Vernichtung preis, wenn eine Gesellschaft diese Menschen zum Ursprung und Kern des Bösen erklärt. Ein überstaatliches Bürgerrecht, oder ein menschliches Grundrecht auf die Unversehrtheit des Lebens und der menschlichen Existenz ist von der Sichtweise dieser Jahre meilenweit entfernt.
„Wär ich wie du. Wärst du wie ich.
Standen wir nicht unter einem Passat?
Wir sind Fremde.“
Wir werden, verehrte Damen und Herren, die Situation jüdischer Menschen in jener Zeit mit allen Nachwirkungen, die bis in unsere Gegenwart hineinreichen, nur begreifen können, wenn wir uns in diese existentielle Erfahrung von Fremdheit, von Einsamkeit, von Exil im eigenen Lande hineinzudenken versuchen. Aber ist nicht, was gerade jüdische Philosophen wie Emmanuel Levinas immer wieder betonen, die Einsamkeit eine Grunder-fahrung der Existenz?
Man kann zwischen Menschen alles austauschen, aber nicht die Existenz. Es lebt jeder und jede sein und ihr eigenes Leben. Was weiß ich schon vom Anderen, was verstehe ich schon von dem, was ihn oder sie im Innersten bewegt?
Das Sein in mir – Sie verzeihen mir bitte diese abstrakten Formulierungen – bewirkt Einsamkeit und Beziehungslosigkeit zum Anderen, weil es dem Individuum des Menschen immer auch um seine Selbsterhaltung geht, um sein „Beharren im Sein“.
Aber das ist ein dialektischer Prozess. Wir könnten nicht in der Gemeinschaft einer Ehe, einer Familie, einer Stadt und einer Gesellschaft leben, wenn es nicht auch einen vorrangigen Bezug zum Anderen gäbe. Ich komme in meiner Individualität von einer Geschichte, ich komme immer schon von Anderem her und bin schon immer durch und durch davon bestimmt. Das Ich des Anderen bricht meine selbstgenügsame Individualität auf und verwandelt sie. Ich zitiere noch einmal Emmanuel Levinas mit seinen unvergleichlichen Formulierungen: „Das Ich, das das Ich des Anderen aufnimmt und gastlich bei sich wohnen lässt, wird ein Anderes“. Der Andere, die andere Kultur, die andere
Existenzerfahrung wird zu einem „Riss im Sein“.
Ist das nicht eine Zielbestimmung für eine angemessene Gedenkkultur und eine Aufgabenbestimmung der Kunst in der Erinnerung an diese finsterste Zeit unserer Geschichte?
Den „Riss im Sein“ der anderen Erfahrungen und unserer deutschen Geschichte wirklich wahrnehmen und an sich herankommen lassen. Das wird bedeuten, auch in den Werken der Kunst des Uwe Appold die Brüche, das Schweigen, das Unvollendete wahrnehmen und es als eine zutreffende Beschreibung unserer gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung werten.
Da hat der Künstler die Namen der ermordeten Jüdinnen und Juden von Burgdorf mit der Erde des jüdischen Friedhofs umgeben und bedeckt. Aber es ist nicht diese Erde, die diese Toten zudeckt. Wer um die Würde jüdischer Friedhöfe weiß, die ein „Bet Olam“, ein „Haus für die Ewigkeit“ sind; wer die Todesfuge Celans bei sich spricht: „Wir schaufeln ein Grab in den Lüften, da liegt man nicht eng“: Der ahnt, dass jede Kunst nur eine entfernte Annährung an eine Lebens- und Todeswirklichkeit ist, die auch die höchste Kunst nie erreicht.
Und der Psalm Celans, der ein Gegenbild zur Weltschöpfung Gottes in Genesis Kapitel 1 ist, ex nihilo, aus dem Nichts habe Gott diese Welt geschaffen:
„Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unseren Staub.
Niemand.“
Uwe Appold bildet die Leuchtsäule in der Mitte des Bildes aus den Überresten der Namen, die auf jener Erinnerungstafel geschrieben sind. Es ist eine utopische Hoffnung, es ist eine Hoffnung, die die Kunst nur verborgen artikuliert, aber es ist eine Hoffnung, die den Juden und den Christen gemeinsam ist: Dass die Namen aller Jener in Gottes Gedächtnis und Erinnerung in alle Ewigkeit aufgezeichnet bleiben und aufgezeichnet sind.
Das ist eine Perspektive des Glaubens, der sich der Künstler und viele von uns verbunden fühlen. Hier im Ratssaal von Burgdorf aber wartet auf uns alle eine andere, eine gesellschaftliche, eine politische Aufgabe. Und die bedeutet, ein einfühlsames, sozusagen – im Sinne der Geschichte von Paul Celan – ein erotisches Verhältnis zu jenen Frauen und Männern und Kindern zu entwickeln, denen eine unmenschliche Barbarei alle Entwicklungs- und Lebensmöglichkeiten genommen hat. Eine einfühlsame Beziehung herzustellen, ist eine Aufgabe, die die Differenz unserer Erfahrungen nicht überspielt. Aber wir können in unserer Seele und in unserem Handeln Brücken schlagen zwischen damals und heute, und die Kunst hilft uns dabei.
„Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken.
Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi.“